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Berichte aus Thyatira (Akhisar): 15. bis 23. Dezember 2005)

>>> zu Donnerstag, 15.12.05
>>> zu Freitag, 16.12.05
>>> zu Samstag, 17.12.05
>>> zu Sonntag, 18.12.05
>>> zu Montag, 19.12.05
>>> zu Dienstag, 20. 12.05
>>> zu Mittwoche, 21.12.05
>>> zu Donnerstag, 22.12.05
>>> zu Freitag, 23.12.05

 

Donnerstag, 15.12.05: Thyatira (Akhisar)

Am Vormittag beende ich die Auslegung zu den 24 Ältesten und fahre dann weiter nach Thyatira, dem vierten Ort der sieben Gemeinden, an welche Johannes seine Offenbarung adressiert hat. Anders als in Bergama, der dritten Gemeinde, gibt es in Akhisar nur einen 50 Quadratmeter umfassenden Bezirk, in dem einige alte Steine herumliegen und die Umrisse eines antiken öffentlichen, aber nicht identifizierten Gebäudes zu erkennen sind. Touristen sind da selten. Nur die religiösen Car-Reisen schauen vorbei und steigen bei diesen Überresten aus der Zeit der Römer kurz aus.
Es wird fast 16 Uhr, bis ich von Bergama wegkomme. Mit Aydin schaue ich noch an, was ich über Bergama auf die Homepage gebracht habe. Er ist begeistert von meinen Fotos und will einige für seine Hotel-Homepage nutzen.
Die Strasse nach Akashir (85 km) ist teils schlecht und führt durch mehrere Dörfer und kleinere Provinzstädte. Irgendwo erwische ich im Radio Englisch gesprochene Nachrichten. Danach folgen die Nachrichten in einem etwas schwerfälligen Französisch und schliesslich auf Deutsch - mit einigen spannenden grammatikalischen Fehlern. Der Sender stellt sich vor als Radio Thyatira. Da fühle ich mich wie Willkommen geheissen. Akishar hat scheinbar eine Ausstrahlung, zumindest, was die Medien betrifft.
Es wird Abend bis ich in Akhisar ankomme. Plötzlich wird die Strasse breit und grosszügig zweispurig. Dann folgt auch schon die Ortstafel: Akhisar, nufes 86'0000 – die türkischen Ortstafeln führen immer die Bevölkerungszahl des Ortes auf. Inoffiziell mag die ehemalige Stadt Thyatira, heute Akhisar, über 100'000 Einwohner haben.
Wie ich einen braunen Wegweise «Thyatira» sehe, weiss ich, dass damit die wenigen Ruinen gemeint sind. In der Nähe parkiere ich und frage einen älteren Herr nach einem Hotel. Er spricht etwas Französich, hat das vor 40 Jahren in der Schule gelernt. Er führt mich zum Hotel Yüncüoclu, wo mir ein grosse Zimmer mit TV, Balkon, WC und Dusche für 25 Lira (=24 Fr.) angeboten wird - mit Frühstück. (Tel. 0031 236 414 25 53; Tahir Ün Cad. No. 64, Akhisar-MANISA)
Da richte ich mich gemütlich ein und schaue etwas TV (türkish CNN über die Wahlen im Iran). Nach Dusche und frischen Kleidern gehe ich die Strasse auf und ab, an der das Hotel liegt. Ich spaziere durch ein Warenhaus, das Elektronik, Werkzeuge, Küchengeräte, Wohnutensilien usw. anbietet. Im vorderen Teil werden auch Kerzen und Nikolausbilder verkauft. Ganz sanft wird hier auch «auf Weihnachten gemacht», aber nur mit der Nikolausgestalt.

Verwestlichung und globaler Markt
Dann esse ich wieder einmal gediegen Znacht in einem grossen Restaurant, wo mir auffällt, dass die Türken hier unsern Lebensstil imitieren. Auch an diesem Ort gibt es einen Fernseher, allerdings einen mit riesigem Flaschbildschirm. Während dem Essen läuft eine türische Familiensendung, wie wir sie zu dieser Abendstunde auch kennen. Der westliche Lebensstilwird in diesen Eigenproduktionen richtiggehend «gefeiert». Da geht es um gutes STellung, Besitz, Liebe, um Streit und Tabubrüche. In allem treten die jungen Frauen attraktiv und modern auf. Viele Gedanken über die Prägung druch das Fernsehen gehen mir durch den Kopf. So auch die Feststellung, dass hier eine radikale Säkularisierung und «Verwestlichung» stattfindet. Bei der Werbung bestätigt sich der Aindruck. Immer mal wieder ändert ein Angestellter den Sender. Ich lasse mir erkären, dass sie 5 staatliche Programme empfangen und gegen 40 unabhängige türkische Programme. Unabhängig ist zwar das falsche Wort, denn die Werbung ist in diesen Sendern so aufdringlich, wie wir das kaum kennen. Gegen eine viertel Stunde kann da geworben werden: für Neskafé, Schokolade, Autos, Waschmaschinen, Gilette, Phillips, Cheverolette, Thosiba, usw. ... Auch die Videoclips zelebrieren eine neue Welt, die teils sogar alternative Elemente enthalten wie Velofahren oder freie Liebe. Jugendprodukte werden auch hier mit Hipphopp und Rap-Musik beworben. Die vielen Sender seien grösstensteils in den Händen von zwei einflussreichen Familien.
Der orthodoxe Islam wird es hier schwer haben. Ich glaube nicht, dass er wird überzeugen können. Fünf mal Beten im Tag? Die Leute interessieren sich an der Konsumwelt, aber auch an Freiheit und Selbstbestimmung, sie wollen mit den Lebensformen der neuen globalen Welt konform gehen. Das ist auch das Thema des Sendschreibens an Thyatira. Christus kritisiert Lehren, welche den freien Umgang mit der Welt des Heidentums möglich machen. Religionssoziologisch ist der Islam in einer weit schwierigeren Ausgangssituation als das Christentum. Das Christentum lässt sich mit dem weltlichen Leben eher verbinden, weil es kaum kultische Regeln vorschreibt und den Schwerpunkt auf die ethische Lebensweise legt.

Nächtliche Begegnung
Gegen Mitternacht kommt der Bruder des einen Angestellten und übernimmt die Rezeption bis morgens um 8 Uhr. Er hat selber mehrere Homepages gemacht und kennt sich gut aus im Netz. Seien Nächte verbringt er vor dem Computer. Als Hobby rekonstruiert der junge Mann, Murat, spannende Gebäude in Miniaturgrösse und konstruiert Fernsteuerungen für Modellflugzeutge. Er holt eine Mosche und zeigt sie mir. Er hat auch viele andere Gebäude in dieser Art gebastelt.
>>> Website mit den Miniaturen.
Der junge Mann hat eine grosse Liebe zu Gott. Er holt mir seinen Koran und zeigt ihn mir mit viel Respekt. Er scheint ein sehr emotionales Verhältnis zu Allah zu haben. In die Moschee geht er selten, aber er praktiziert für sich Meditationen, besucht oft das Grab eines Sufimeisters und spricht von der Substanz, von der Freude und der ununterbrochenen Anbetung, die dort zu pflegen und zu erfahren ist.

Da er kein Wort Englisch spricht, sich aber auf dem Netz auskennt, sucht er über Google ein Übersetzungsprogramm. Das Wort, das ihm auf dem Herzen liegt, gibt er auf Türkisch ein und er erscheinen englische Übersetzungen.

So lässt er viele wohlklingende türkische Worte aus dem Bereich der Mystik übersetzen und ich ahne jeweils, was er mir sagen will. Er öffnet auch eine islamische Homepage, wo Koranrezitationen und mystische Zeremonien (Siker) zu sehen und zu hören sind. Eine wichtige Meditation in diesem Bereich ist das rhythmische, mit starkem Atem begleitete rezitieren der Gottesnamen.
Doch er will nicht, dass ich diese Website hier veröffentlich. Das sei ein Politikum in der Türkei.
Dann zeigt er mir eine Website über Akhisar >>> zur offiziellen Seite von Akhishar


Freitag, 16.12.05: Thyatira (Akhisar)

Mystik und Geisterfahrung
Heute Morgen denke ich kurz über ein Zitat des islamischen Mystikers Rumi nach, das mir meine Frau von daheim mitgeteilt hat. Dort verspottet Rumi die Gelehrsamkeit der Philosophen. Denn die Philosophen rühmen sich, die Eigenschaften Gottes und die Hintergründe des Universums beschreiben zu können. Doch würden diese Gelehrten in ihrem ausgedehnten Wissen das Wichtigste nicht kennen, nämlich das Selbst, in dem Gott sich zeigt. Die Philosophen versuchten Gott mit ihrem Wissen zu erfassen, würden aber nicht realisieren, dass Gott uns näher ist als die eigene Halsschlagader.
Rumi formuliert das alles in wunderbar poetischer, bildhafter Sprache, die auch etwas Verspieltes und Liebliches an sich hat. Ich bin verblüfft, wie damals im 15 Jh. hier dieselben Diskussionen stattfanden, wie ich sie auch aus unserer Philosophie und Mystik kenne. Es geht darum, im Denken des Herzens die ewige Substanz zu erfahren, Gott als inniges Leben im Licht des eigenen Selbst zu finden. Wie aber wandelt sich der abstrakte, abgeschattete Gedanke, in dem man über etwas nachdenkt und spricht, in einen lebensvollen Geistgedanken, in dem sich die göttliche Welt zeigt, in dem Gott lebt und ich in ihm?
Ich habe gestern über die 24 Ältesten geschrieben und ihre Funktion für die Schöpfung und die künftige Menschwerdung erklärt. Aber bin ich dabei über blosse Gedankenübungen hinausgekommen? Sind mir diese Himmelskräfte zur Erfahrung geworden?
Es war dieses zarte Gefühl heute Morgen, das meine Seele gestreift hat: die Geisteswelt ist nicht verschlossen, der Himmel ist allgegenwärtig und seine Kräfte steigen allzeit über uns auf und ab, nur lassen wir es nicht zu, dass dieses Fluten der Energien unser Inneres erfüllt. Wir bilden es nach mit Gedanken des Gehirns, die bloss ein Abklatsch, eine Nachbildung des Gemeinten sind, eine Annäherung an diese Himmelskräfte. Doch wenn ich diese Gedanken loslasse, damit sie im Gefühl der Gottesliebe schmelzen, flüssig werden, so kommt Leben in sie und es öffnet sich der Himmel - eine Ahnung für das, was der offene Himmel ist, streift mich an diesem Morgen in Thyatira.
Dabei geht es nicht einfach darum, bloss nach innen zu lauschen und das eigene Selbst zu bestärken. Nein, ich kann mit offenen Augen zum Himmel blicken und gerade in diesem Anblick das in mir empfinden, was sich als Gedanke durch diesen realen, wolkenbedeckten Himmel ausspricht. Denn die Welt der göttlichen Himmelskräfte hat ihren Ausdruck im realen Himmel gefunden, über den ich geistlich nachgedacht habe und ihm nun z.B. mit der Idee der 24 Ältesten begegne, welche in meiner Seele auch durch die mythischen Bilder dieser Gestalten verstärkt werden kann. Sie sind aber Geisteskräfte, die im Umkreis des Himmels anschaubar sind und in meinem Selbst als Gedanke Leben annehmen können - wenn ich das zulasse in dem ehrfürchtigen Aufblick, nicht im greifenden, sondern im empfangenden Denken und Fühlen, in der Gotteserfurcht oder der Gottergebenheit (Islam), wie die Muslime sagen.

Freitagsgebet und Glaubensgespräche im Barber-Salon
Gegen Mittag begebe ich mich in die Nähe der Moschee, die ich gestern bei meinem Autopark gesehen habe. Denn es ist wieder Freitag. Das ist der Tag, an dem sich die Muslime am Mittag für das Freitagsgebet versammeln. Aber ich bin noch etwas zu früh, sodass ich durch die Strassen schlendere, mir von einem Knaben die Schuhe putzen lasse, die Ruinen von Thyatira fotografiere (siehe unten) und zu einer Bussstation komme. Ich erkündige mich in einem Überwachungsbüro nach Bussen für Ismir, da morgen in der Polykarpkirche in Ismir ein Konzert aufgeführt wird. Ich erhalte die gewünschte Information. Jede Stunde fährt ein Buss nach Ismir, zurück aber müsse ich den Buss nach Istambul nehmen, der in Akhisar hält. Dann aber komme ich mit den Leuten ins Gespräch. Ein älterer Herr spricht Deutsch. Der Dienst habende junge Mann hat in dem Häuschen viele Fussballbilder aufgehängt. Er holt die Zeitung und sagt mir, wann in der Schweiz welche Meisterschaftsspiele stattfinden. Viele Türken verfolgen den Fussball weltweit und wissen bestens Auskunft über die Mannschaften. Sogar den FC St.Gallen kennt der junge Mann.

Dann gehe ich zurück zur Moschee, wo sich die Leute zum Freitagsgebet sammeln. Bereits müssen die Männer draussen ihre Teppiche ausbreiten, da die Moschee voll ist. Ich setze mich in der Nähe in ein Teehaus, wo ich einige Tees trinke und aus der Ferne das Freitagsgebet beobachte. Es gibt nur eine kurze Predigt, da es regnet und die draussen Betenden froh sind, nicht allzu nass zu werden. Wie das Gebet fertig ist, will ich zahlen. Aber niemand will Geld. Die Menschen sind hier überaus zuvorkommend gegenüber Fremden.

Wie bei der Mosche nicht mehr viele Leute sind, gehe ich näher. Einige Männer zählen das Geld, das heute zusammen gekommen ist. Ich frage, ob ich die Moschee besichtigen könne. Der Muezzin, der das Gebet ausruft, zeigt mir das Gebäude. Dann kommt auch der Vorbeter dazu, der Deutsch spricht. Er war einige Jahre in Hamburg als Imam tätig. Er erzählt mir, dass die Muslime in Hamburg eine Kirche, die seit 30 Jahren nicht mehr gebraucht wurde, für 500'000 deutsche Mark kaufen konnten. Jetzt ist die Kirche eine Moschee.

Wir werden dann in einem nahe gelegenen islamischen Laden gerufen, wo viele Leute ein und ausgehen. Alle interessieren sich für das, was ich hier mache. Ich spreche von einer Hatsch, einer Pilgerfahrt zu den Orten, wo der Glaube der Christen begonnen hat. Das macht den Muslimen Eindruck, aber sie sind teils auch etwas verunsichert über meine religiöse Haltung, da ich sage, dass ich auch den Koran bei mir habe und darin lese.
Der Ladenbesitzer kennt sich gut aus bei den CD's. Er hat ein riesiges Sortiment. Ich lasse mich beraten und kaufe drei CD's: Koranrezitationen von einem Südafrikaner, von dem alle sagen, dass er weltweit am schönsten den Koran lesen könne, dann eine CD mit mystischen Siker-Gesängen und eine CD von samiyusuf al-mu'allim, ehemals Cat Stevens. Diesen Cat Stevens kennen wohl fast alle Muslime in der Welt. Er ist zu einer Symbolfigur geworden, dass es einen Austausch gibt zwischen Orient und Okzidenz. Der Orient lernt nicht nur vom Westen. Es gibt auch die andere Bewegung, dass der Osten etwas schenkt, das vom Westen aufgenommen wird. Samiyusuf al-mu'allim ist darum eine fast messianische Gestalt. In seinen Konzerten schafft er auch zarte Verbindungen von westlicher Musik und echt islamischer Anbetung und Koranrezitation.
In den Laden kommen auch zwei Männer, wovon einer gut Englisch spricht. Der Imam erklärt ihnen, was ich hier suche. Der englisch sprechende Mann fragt, ob mir sein Chef ein Geschenk machen dürfe. Ich erhalte ein spezielles Parfum. Der Englisch sprechende Mann ist Lehrer, der andere der Schulleiter. Sie fragen mich, ob ich am Montag ihre Schule besuchen wolle. Ich nimm das Angebot freudig auf. Der Deutsch sprechende Imam wird mich begleiten.
Dann nimmt mich der Imam der Moschee mit, um Kollegen von ihm zu treffen, auch Imame. Unterwegs treffen wir den Stadtpräsidenten von Akhisar, der gerade eine Strassenbaustelle besucht. Ich werde ihm vorgestellt, wiederum mit meinen Anliegen. Auch er will mich empfangen. Wir verabreden uns für Montag gegen 15 Uhr.
Dann führt mich der Imam zu seinen zwei Kollegen in einem Restaurant. Der eine spricht schlecht und recht Englisch. Er ist derzeit Imam in Köln und gerade auf Urlaub daheim. Er kann immer nur für drei Monate dort weilen, da er nur einen «grünen Passe» hat - was immer das ist. Der andere Imam ist für die im Jahr 2002 neu eingeweihte grosse Mosche in Akhisar zuständig. Beim gemeinsamen Essen diskutieren die Imame scheinbar die Frage, wie weit ein Christ, der sich für den Islam interessiert, vor Gott Bestand hat. Da mischt sich ein junger Mann nebenan ein in das Gespräch und vertritt die Meinung, dass auch über den Weg der Christen das Paradies erlangt werden könne. Wie er geht, bittet er uns alle, in seinen Coiffeur-Salon zu kommen.
Die Imame nehmen die Einladung gerne war. Der Barber-Salon ist so eingerichtet, dass gegenüber den drei Coiffeur-Stühlen viel Platz ist mit Sitzen und Tischchen, wo die Kunden beim Warten plaudern können oder Zeitung lesen. Sogleich entspannt sich eine heisse Diskussion, in die sich alle einbringen. Wir erreichten den Salon gegen 2 Uhr. Ich verlasse ihn um 7 Uhr abends.


Im Bild von links nach rechts: zwei Imame, dann zwei Mitdiskutierende, ein Angestellter und weitere Kunden

Wieder einmal bedauere ich, kein Türkisch zu verstehen. Tatsächlich finden da über drei Stunden erregte Glaubensdiskussionen statt. Ich beobachte die Gesten und verstehe zwischen drin ein Wort, das mich ahnen lässt, wovon gesprochen wird. Immer wieder bitte ich um eine kurze Übersetzung dessen, was da so emotional und energisch diskutiert wird. Mir fällt auf, wie selbstbewusst und kraftvoll die einfachen Leute den Theologen Paroli bieten, und wie die Imame oft in lange lehrhafte Monologe geraten. Ein Mann verlässt das Lokal provokativ im Widerspruch zu den Imamen. Wie mir erklärt wird, hätte er behauptet, dass Mohamed recht frei die Praxis des Gebets gepflegt habe, z.B. sei er einmal lange gelegen, sodass seine Frau befürchtet habe, dass er tot ist. Das sei wahr, aber das ändere nichts an der prophetischen Lehre, dass Muslime fünf Mal nach islamischer Ordnung zu beten hätten.
Auch mit andern Leuten ging es um die Frage, ob die Erfüllung der Gebetspflicht zum Paradies führe. Der Imam meinte, dass selbst die Einhaltung des fünfmaligen Betens keine Gewissheit gebe, das Paradies zu erlangen, aber er wehrte sich vehement gegen die von den Leuten vertretene Meinung, dass es allein auf das ethische Verhalten im Leben ankomme, ob jemand vor Allah bestehen könne. Der Anlass der ganzen Diskussion war tatsächlich die im Restaurant verhandelt Frage, ob ich als Christ Gott gefallen könne oder ob ich erst als bekennender Muslim vor Gott Gnade finde.
Wie mir der Imam jeweils übersetzt, fällt mir ein stets wiederholter Kommentar auf. Er sagt immer wieder, dass er seit 25 Jahren Imam sei, den Koran studiert habe und wohl eher Bescheid wisse über die Fragen des Glaubens als diese einfachen Leute. Wenn er krank sei, gehe er zum Arzt, der Medizin studiert habe und nicht zum Eierverkäufer oder zum Automechaniker. So seien sie als Imame zuständig für die Fragen des Glaubens.
Ich bin zum einen verblüfft, wie hier Laien den Theologen Paroli bieten, aber auch, dass die Theologen sich den Diskussionen stellen. Allerdings fiel mir eine gewisse Selbstsicherheit, wenn nicht Selbstgefälligkeit bei den Imamen auf. Mir kamen teils die von Jesus angegriffenen Pharisäer und Schriftgelehrte in den Sinn.
Während der ganzen Diskussionen hat der junge Barber (Coiffeur) an Kunden gearbeitet. Mir gefiel seine Hingabe in allem, was zu dem Service gehört. Wie sich die Leute verabschieden, lass ich mich kurz entschlossen auf einem Haarschnitt ein.
Allerdings haben mir die Angestellten von einem radikalen Schnitt abgeraten. Meine langen Haare scheinen sie als zu mir gehörig gesehen zu haben. So hat mir der junge Coiffeur mit viel Engagement die Haar nur leicht gekürzt, und mit einem Aufwand, den ich hier kaum nacherzählen kann und will. Dazu gehörte auch eine Massage des Hauptes, des Rückens, der Arme und der Finger. Er zupfte Haar von meiner Nase, schnitt welche in der Nase, in den Ohren usw. Ich war nach dem Schnitt vollkommen erneuert. Für die 100 Minuten, die er meinem Schnitt gewidmet hat, zahlte ich 7 Lira.
Wie ich zurück komme zum Hotel gleich nebenan, sehe ich, dass da ein Christbaum aufgestellt worden ist (Bild unten).
Zu den heute Nachmittag erlebten Eindrücken und Begegnungen präsentiere ich nun noch die unten folgende Fotoausstellung. Die Bilder können durch anklicken vergrössert werden.

Mein neues Logement Ausblick von meinem Balkon Die Ruinen von Thyatira Fussball als Thema
Bilder in einem Teehaus Ende des Freitaggebets Kuppel der Moschee nebenan Gebetsnische und Kanzel
Religiöser Bücherladen Der Stadtpräsident (2.v.l) Diskussionen beim Coiffeur Der junge Coiffeur
Laien melden sich zu Wort

Imame verteidigen Pflichten

Mein neuer Haarschnitt Weihnachtsbaum beim Hotel

 

 

Samstag, 17. Dezember 2005: Thyatira (Akhisar)

Apokalypse und Abendmahl
Heute Morgen lese ich auf meinem Balkon mit Blick auf die belebt Strasse einen weiteren Aufsatz aus dem Buch «Die Apokalypse des Johannes als Schulungsbuch» vom Anthroposophen Fred Poepping. Er zeigt da auf, wie die ganze Apokalypse in gewissem Sinne den christlichen Kultus, die Messe oder wie wir sagen, das Abendmahl, darstellt. Was Christus mit seinem Leben vollzogen hat, dass soll auch mit der Gemeinde, mit den Seinen, geschehen. Aus dem Tod wird neues Leben. Das Sterbliche der Erde wird irgendwann abfallen und das, was auf der Erde geworden ist als bleibendes Leben, das wird die neue Schöpfung bilden.
Im Abendmahl nun verbinden sich die Menschen mit Christus, der durch den Tod gegangen ist und in seiner Auferstehung die neue Schöpfung bereits verkörpert und als Katalysator oder Ferment für die Verwandlung der Erde wirkt. Jesus ist somit nicht einfach ein Prophet wie Propheten vor ihm. Er ist die Kraft Gottes im Universum, die durch ihre Hingabe und Liebe zur Schöpfung, im Durchgang durch den Tod, die vergehende Schöpfung anleitet und hinüberführt zum neuen Äon. Das Lamm ist mit auf dem Thron Gottes und schenkt durch seine Opfertat die Kraft, an diese Verwandlung Anschluss zu finden.
Die Messe in ihren vier klassischen Teilen ist nun ein Ritual, in dem der Mensch diesen Anschluss an die den alten Kosmos verwandelnde Christusliebe findet.

Stufen der Verwandlung im Abendmahl und der Meditation
Im ersten Teil, der Evangelienlesung, verbindet sich der Mensch mit der frohen Botschaft von Gottes Rettungstaten. Er nimmt die Bilder in seine Gedanken und Vorstellungen auf.
Im zweiten Teil, wo an das Opfer Christi erinnert wird, vollzieht auch der Mensch ein Opfer, indem er selbstlos die persönlichen Vorstellungen und Bilder vom Heil loslässt und sie sich als inneres Bild neu schenken lässt.
Im dritten Teil, den die katholische Lehre Transsubstantiation oder Wandlung nennt, soll sich auch unser inneres Bild vom Heil wandeln, indem es Gefühl wird und dort vom Geist bestärkt, belebt und erfüllt wird - verwandelt in geistige Substanz.
Die vierte Stufe wird Kommunion genannt, die bis in den Willen wirken soll. Hier vereinigt sich der Mensch mit der Kraft Christi, die seinen innersten Willenskern berühren und erleuchten kann.
Was sich in diesem christlichen Kult vorbildlich zeigt, dass kann nach Poepping auch in der persönlichen Meditation geübt werden, wenn die Bilder vom Heil innerlich verlebendigt werden durch die Verwandlung des Denkens zur Imagination, durch die Verwandlung des Fühlens in Inspiration und die Verwandlung des Willens in Intuition. Wobei diese Verwandlung nicht einfach ein Akt des menschlichen Subjekts ist, sondern der göttlichen Liebe und Gande, welcher sich der Mensch in der Meditation erfürchtig, in Gottesliebe anbetend, hingibt. Das Subjekt der Verwandlung ist das, was zwischen dem Liebenden und dem Geliebten sich kundtut: die Liebe selbst. Diesen Gedanken von der Trinität des Liebenden, des Geliebten und der Liebe, habe ich übrigens bei Raimundus Lullus gefunden, der mit seinen 365 Sprüchen über den Liebenden, den Geliebten und die Liebe den christlichen Glauben so formuliert hat, dass er undogmatisch universell verständlich wird. Lullus lebte im 13. Jh. in Spanien und pflegte intimen Kontakt mit den Muslimen.
Diese vier Stufen der Verwandlung durch die Liebe, sei es im Kultus oder in der Meditation, sollen sich nun auch in der Johannesoffenbarung spiegeln, denn die Apokalypse schildert in ihren Bildern die Verwandlung der alten Schöpfung in eine neue Schöpfung, und sie zeigt, wie durch alle Stufen dieser Verwandlung die Kraft Gottes in Christus (Gott und das Lamm) die Prozesse vorantreibt und auch ausscheidend, differenzierend wirkt. Was keinen ewigen Bestand hat vor Gott, muss abfallen, so selbssicher und machtvoll sich die aufgebauten Scheinwelten auch gebärden.
Die Christuskraft soll die Menschen im Herzen erreichen und von dort aus den ganzen alten Menschen in den neuen Menschen verwandeln.

Stufen der Verwandlung in der Apokalypse
Das ist ein grosser Prozess, der sich über viele Zyklen und Zeitalter abspielt. Je mehr die Zeit vorrückt, desto stärker greift die Kraft Christ in die Welt und in die Verwandlung des Menschen ein. Die Aufnahme des Evangeliums, die Kenntnis der Heilstat Gottes, ist dabei ein erster Schritt. Darum muss das Evangelium in der ganzen Welt verkündet werden. Ich bin überrascht, diese Tatsache von Rudolf Steiner sehr klar beschrieben zu finden: «Für das Geistig-Seelische ist aber notwendig, dass der Christus-Impuls sich auch in den Schlafzuständen in die Seele des Menschen senken kann. Dazu ist notwendig, dass der Mensch wissentlich sich bekennt zu dem Inhalt des Mysteriums von Golgatha …» Auch bei Lorber habe ich früher gelesen, wie wichtig das Wissen um Christus auch für das Leben nach dem Tod ist. Es führt an das belebende und weiterführende Licht heran.
Doch das Christentum bleibt nicht bei der Verkündigung, der Evangelienlesung, der Kenntnis der göttlichen Heilsveranstaltung, stehen. Die Christuskraft will auch das Gefühl und den Willen durchdringen und so auf das seelische und leibliche Leben sich auswirken, dieses verwandeln.
Die Apokalypse soll nun diese immer tiefere Verbindung mit Christus bezeugen und zeigen, wobei auch der Widerstand ebenso tief und mächtig sich erhebt. Die fortschreitende Möglichkeit, Christus immer tiefer aufzunehmen, ihn durch Opfer, Transsubstantiation und Kommunion ganz Herr werden zu lassen über uns - diese Möglichkeit wird auch in ihr Gegenteil verkehrt (Drache, Tiere, Babylon usw.) und die göttliche Liebe wird zum Gericht, um die neue Welt unter den Verunstaltungen, die sie bedeckt, hervorzubringen.
Die sieben Gemeinden sind in diesem Vergleich die erste Stufe, wo die Menschheit das Evangelium aufgenommen hat. Durch alle sieben Epochen haben sie dieses Evangelium zu bewähren. Der ganze Weg dieser Verwandlung ist enthalten im Buch mit den sieben Siegeln, welche das Lamm durch seine Würde öffnen kann. Die sieben Posaunen, die sodann erschallen und göttliche Gerichte auf Erden auslösen, bringen das hervor, was auf der Stufe der Gefühle (Inspiration) von Christus weiterlebt und aufgenommen worden ist. Das andere muss abfallen.
Und die sieben Zornschalen, die zuletzt ausgegossen werden und die wild aufbegehrenden Gegenmächte treffen werden, bringen hervor, was im Willen der Menschen von Christus lebt und Bestand hat.
So soll die Apokalypse das widerspiegeln, was schon jetzt im Kultus vorbildhaft vollzogen werden kann, in seiner Fülle und Ganzheit aber erst mit der Endgeschichte selbst wird geschehen können: das Vernehmen des neuen Lebens (Verkündigung), die Hingabe des alten Lebens (Opfer), die Wandlung zum neuen Leben (Transsubstantiation) und die Vereinigung mit dem Christusleben, dem neuen kosmischen Leib, die Kommunikon. Im siebenten Sendschreiben an Laodicea verheisst Chrsitus die ewige Mahlgemeinschaft mti ihm. Da heisst es: « Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.» (Apk. 3, 20) Christus klopft an. Wir können seine Stimme hören und ihm die Türe auftun. Dann kommt er herein. Das Abendmahl feiern wir mit ihm, wie er es auch mit uns feiert. In diesen wenigen Worten ist viel darüber gesagt, was im kosmischen Wandlungsprozess (Apokalypse) wie auch im kultischen oder meditativen Wandlungsprozess (Abendmahl, Meditation) unser Anteil, unser Handel ist, und war von Cristus her geschieht.

Die Muslime in ihrem Gottesglauben
Wenn ich so über diese Bilder nachdenke, bin ich innerlich immer auch bei den Muslimen, welche Jesus nur als Propheten sehen und denen diese ganzen Geschichten der Verwandlung durch Gott und das Lamm, das Essen seines Blutes und Fleisches, ziemlich abstrus und wirr vorkommen. Für sie ist es Gott, der die Welt souverän zu ihrem Ende führen wird und dabei die Menschen nach ihren Werken beurteilt. Um Gott zu gefallen und das Paradies gewisser zu erlangen, bietet sich das islamische Regelwerk an, das seine Wirkung haben kann, aber auch zu Gesetzlichkeit verleitet, zu einem richtiggehenden Anstoss und Fall. Das Christentum lehrt dem gegenüber eine Art Personen-Mystik und bietet einen Kult, in dem man sich mit dem verstorbenen Meister vereinigt. Das alles ist für Muslime in der Tat dem Heidentum näher, als wir das für wahr halten wollen. Ich verstehe die Muslime, welche diesen Lehren vom Sohn Gottes und dem Essen seines Fleisches den schlichten Monotheismus entgegenhalten und das Niederwerfen vor Gott. Wie den Muslimen die oben beschriebene Bedeutung des Christus dargelegt werden kann, ohne dass sie dabei ihrem echten Gottesglauben Gewalt antun müssen, das wird mich noch beschäftigen.

Koranrezitation und das rituelle Rezitieren der Johannesoffenbarung
Ich habe in diesen Tagen des öftern Koranrezitationen auf meinem Notebook gehört. Der Respekt vor dem von Gott stammenden Wort zeigt sich in den Gesängen. Ich bin immer wieder beeindruckt und berührt. Gestern habe ich eine CD gekauft, auf der ein Südafrikaner den Koran singt. Der Verkäufer sagte mir, dass dieser Abdurrahman Sadien der weltbeste Koranrezitator ist. Die Aufnahme ist teils schlecht, da sie von einer Live-Aufführung stammt. Im Hintergrund hört man immer wieder die Menschen, die nicht klatschen, aber mit ihrem Gemüt der Stimmungslage Ausdruck geben, die von dieser Rezitation ausgelöst wird.
Auf meinem Notebook ist auch ein Musikprogramm: garage-band. Mit diesem mache ich heute erste Versuche, die Apokalypse auf einem Hintergrund von selbst fabriziertem Gesang singend zu rezitieren. Es macht Spass und hört sich schon bald vernehmbar an. Ich werde an dieser Aufgabe dran bleiben - nun aber endlich zum Essen gehen.

Im Restaurant bin ich über der Menükarte ziemlich ratlos. Ich verstehe einfach nichts und mache russisches Roulett. Was ich erhalte, nährt mich für den ganzen Tag. Ich bezahle 4 Lira. Dann lese ich im Restaurant einen weiteren Aufsatz von Popping. Wie ich aufbreche, wird es schon Abend. Viele Leute sind auf der Strasse. Es ist Samstagabend. Die Menschen sind auffallend gut angezogen und haben Ausgangsstimmung. Da höre ich Musik. Ein neues Warenhaus wird eingeweiht. Tanzgruppen führen traditionelle Tänze auf, dann singt ein Sänger und unterhält die Menge.

Das Sendschreiben an Thyatira
Daheim lese ich aus verschiednen Büchern über das Sendschreiben an Thyatira. Da ist diese Isebel, eine Prophetin, die in dem Brief an Thyatira im Mittelpunkt steht. Ihr werden sexuelle Praktiken, Hurerei, vorgeworfen. Die Ausleger sind sich nicht einig, ob es sich um eine symbolische oder eine reale Frau in Thyatira handelt. Erstmals lese ich auch in dem dicken Buch von Adrienne von Speyer, einer Genossin von Hans Urs von Balthasar. Sie bringt eine Auslegung der Apokalypse über 1000 Seiten ohne Studium der wissenschaftlichen Literatur. Sie verlässt isch auf ihren katholischen Glauben und ihre seherische Fähigkeit. Doch gerade das, was ich da über Isebel lese, zeigt mit die Grenzen einer solchen Auslegung. Die Versuchungen der katholischen Priester in ihrem Zölibat sind für mich an dieser Stelle nicht unbedingt angesprochen. Ein anderes Buch vom Anthroposophen Michael Frensch, dem Herausgeber der ehem. Zeitschrift Novalis, scheint mir reichlich kompliziert und zeigt für mich auch zu wenig Kenntnis der historischen Sachlage. Wie sich Christus der Gemeinde in Thyatira präsentiert (brennende Augen und feurige Füsse), gibt den Theologen allgemein Rätsel auf, auch die Verheissung, mit Christus zu regieren und den Morgenstern zu erhalten.
Morgen will ich dieses Sendschreiben besprechen.

 

Sonntag, 18.12.05: Thyatira (Akhisar)

Heute Morgen lese ich noch weitere Kommentare zum Sendschreiben an Thyatira. Dann beginne ich mit meiner Auslegung, bei der ich davon ausgehe, dass Thyatira die Mitte der sieben Gemeinden bildet. Wenn die Gemeinden für Zeitepochen stehen, so ist Thyatira die Mitte der Zeit, in welcher sich der Herrschaftswechsel von der alten zur neuen Schöpfung vollzieht. Davon ausgehend lassen sich die Elemente des Briefes gut deuten.
Doch gegen zwei Uhr werde ich nervös. Wenn ich wie geplant nach Ismir zur Weihnachtsfeier in die anglikanische Kirche gehen will, muss ich aufbrechen. So verschiebe ich die weitere Arbeit auf morgen und fahre nach einem Mittagessen los. Etwas ausserhalb von Akishar fotografiere ich die neue Moschee aus dem Jahr 2000, von der ich bereits gehört habe. Zum zweiten Mal muss ich meinen Benzintank auffüllen – für 2.55 Fr. pro Liter. 90 Franken habe ich selbst für unsern alten, benzindurstigen Toyotabus in der Schweiz nie bezahlt.
Es regnet heftig, vor allem als ich nach etwas 60 km in Manisa (ehemals Magnesia) aussteige, um das dortige Museum und die Muradiye-Moschee aus dem Jahr 1583 zu besichtigen. Diese Moschee wird als die schönste an der Westküste der Türkei gelobt. Dazu einige Bilder:

Die neue Moschee von
Akishar aus dem Jahr 2000
Griechischer Kopf aus dem Museum in Manisa Griechische Engelsgestalt,
Museum in Manisa
Urchristliche Skulptur
Hetitische Reliefs im Museum von Manisa Überreste von christlichen Sakralbauten aus Manisa
Muradiye, die schönste Mosche im der Westtürkei, in dessen Seitengebäude das Museum ist Passtrasse nach Ismir

Es wird schon dunkel, wie ich die teils steile und wieder stark abfallende Strasse nach Ismir hinunter fahre. Über eine dreispurige Autobahn komme ich bis ins Zentrum und bin früher da, als geplant. Noch wird in der anglikanischen Kirche geprobt für den traditionsreichen Abend am 3. Advent, der jeweils von einem Adhoc-Chor bestreitet wird. Der Anlass heisst offiziell: «A service of lessons and carols für christmas». Er beginnt mit etwas Verspätung. Die Kirche füllt sich bis auf den letzten Platz. Die Feier besteht aus etwa 12 Liedern, drei mit der Gemeinde, darunter auch «Stille Nacht, Heilige Nacht» auf Englisch. Die Textlesungen gehen vom Sündenfall über Jesaiastellen bis hin zu den Weihnachtstexten von Lukas und Matthäus und natürlich dem Johannesprolog (Joh. 1, 1-14) als krönendem Abschluss – schliesslich ist die «St.John's Church, Alsancak» dem Apostel gewidmet, der nach der Apokalypse auch das Evangelium geschrieben hat - von dem unser Reformator Zwingli einmal geschrieben hat: Nimm das Evangelim des Johannes von der Bibel raus und du nimmt der Welt die Sonne weg.

Priester Ron spielt die Orgel Ministranten mit den Kerzen Geselligkeit nach der Feier Der siebenarmige Leuchter

Nach der Feier plaudere ich noch mit Ron, dem anglikanischen Prieseter und einigen Jugendlichen. Ron kopiert mir die erklärende Einleitung in die Offenbarung aus einer türkischen Bibel. Mit diesem Papier kann ich interessierte Türken, mit denen ich nicht sprechen kann, über das Objekt meines Studiums aufklären.
Von den Jugendlichen ist einer Katholisch, der andere Anglikanisch, der dritte Protestantisch. Doch dieser dritte hat irgendwie eine gebrochene Geschichte mit dem Christentum. Er wizelt fortwährend über die Protestanten in der Türkei. Er hätte schon fünf reformierte Bezugspersonen gehabt, aber seit dem er Ron kenne, wisse er, dass es auch normale Pfarrer gibt. Er karrikiert diese Missionare, wie sie von ihm ein Sündenbekenntnis uns stets neues Beten fordern, damit er nicht in Versuchung gelange, vom Glauben abzufallen. Er sei sogar selber als Missionar in den Iran gegangen. Ob er das in seinem Übermut und Spott erfunden hat oder ob er da tatsächlich war, liess er nicht erkennen. Seine beiden Kollegen lachen mit ihm. Diese scheinen gefestigter in ihrer katholischen und anglikanischen Heimat. Ich erkündige mich nach katholischen Weihnachtsmessen und erfahre, dass am 24. Dezember um 23.30 die grosse Heilig-Abend-Messe in der Kirche Santa Maria stattfindet – in italienischer Sprache. Viele der katholischen Kirchen werden von den Italienern betreut. Früher seien auch die Franzosen präsent gewesen. So plane ich bereits meinen Heiligen Abend. Um 20 Uhr bei den Anglikanern, um 23.30 bei den Katholiken und am 25. habe ich die Einladung im Haus der anglikanischen Priesterin. Sie spricht mich wieder darauf an, entschuldig sich aber, dass sie mir keinen Schlafplatz anbieten könne.
Die Heimfahr ist ein Abenteuer auf der Strasse. Es regnet in Strömen. Überall teils tiefe Pfützen. Ich suche mir stets ein Auto, dem ich folgen kann und so trotz der schlechten Sicht in der Regel mit einer Geschwindigkeit von 80 bis 100 Stundenkilometer vorwärts komme und nach 90 Minuten dankbar wieder in Akhisar ankomme. Wieder bin ich bis spät in der Nacht mit dem Angestellten, der Dienst tut. Er zeigt mir weitere islamische Webseiten, wo Kinder den Koran rezitieren. Er erzählt mir auch von einer Gotteserfahrung, die ihn auf den Weg zu Allah gebracht habe. Er wurde wegen einem Erdbeben geweckt von einem Kollegen, doch er blieb liegen und schlief weiter, weil er einen Engel gespürt habe.

Montag, 19.12.05: Thyatira (Akhisar)

Heute Morgen, nach einer eher kurzen Nacht, will ich einem innern Gefühl nachgehen, welches mir etwas über die dem Menschen einwohnende Abhängigkeit von Gott sagen will. Bevor ich zu schreiben beginne, überfliege ich aber zuerst meine Einträge zu Thyatira und überarbeite und ergänze die Texte da und dort. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, bis ich mich mit dem Imam der nahe gelegenen Moschee treffe, um mit ihm eine Schule zu besuchen.

Weltschmerz und Gottesfreude
Was wollte sich in diesem Gefühl aussprechen, das mich heute bei Frühstück und Musikprogramm des TV erfüllt hat? Es hat mit der Frage zu tun, wie Religion überhaupt funktioniert und welche Bedeutung sie hat für den weiteren Weltlauf, dem die Menschen entgegen gehen. Wenn ich das Buch der Johannesoffenbarung lese, studiere und verstehen will, dann muss ich ebenso intensiv im Buch des Lebens lesen, studieren und verstehen. Denn wenn ein Buch das andere erläutern soll, dann müssen in meiner Seele die Bilder der Offenbarung und die Bilder des heutigen realen Lebens zusammen kommen, sich durchdringen, wandeln und einen geistlichen Sinn erschliessen, der mir selber zur Offenbarung wird.
Aufgekommen ist das Gefühl, als ich gedankenlos die Angestellten beobachtet habe, wie sie teils ohne miteinander zu sprechen, halb dem TV zuhörend, halb ich sich selbst sinnierend, beieinander sassen. In meinem gedankenlosen Beobachten und Anteilnehmen waren da gefühlsartige Fragen: Was tun diese Menschen hier auf der Erden? Wie stellt sich ihnen das Leben dar? Wie orientieren sie sich? Welches Schicksal haben sie warum? Was sind ihre Perspektiven?
Ähnliche Empfindungen und Fragen steigen in mir auf, wie ich nun von meinem Balkon aus das Leben auf der Strasse beobachte, all diese verschiedenen Menschen: Der in Decken eingehüllte Verkäufer, der jeden Morgen seinen Wagen auffährt und den ganzen Tag davor sitzt. Die verschiedenen Passanten, alte Leute, junge Frauen, teils mit Kopftuch, teil modern gekleidet, Kinder in Schuluniform …. Irgend ein Schmerz, aber auch eine traurige Freude erfüllt mich. Mir kommt seltsamerweise auch jene Koranrezitation von gestern Nacht in den Sinn, die mir mein Freund vom Internet abgespielt hat. Ein grosser Rezitator konnte die Sure Fatima nicht fertig sprechen, da er aus Rührung ins Weinen gekommen war. Dieses Weinen hat eine ansteckende Wirkung. Man wird hinein genommen in einen Weltschmerz, der zugleich ein Licht der Freude, ein wärmendes Feuer über die Offenbarung Gottes aufleuchten lässt in der Seele. Ja, der Glaube hat viel mit dem Gefühl zu tun. Das Gefühl ist der Ort, wo die Frömmigkeit – und durch sie Gott – die Seele erreicht und umschmelzt.
Auf die gefühlten Fragen habe ich keine Antwort, aber ich weiss, dass das, was die Offenbarung mittels visionären Bildern aus alten Kulturen sagt, umfassender und weiter ist, als all die gelehrten Kommentare und Auslegungen, welche beim Volk Gottes vor allem die Kirche oder die Christenheit im Blick haben. Der Mann, der da unter friert, aber redlich und zufrieden seiner Arbeit nachgeht, ist in gleicher Weise wie ich in die grossen Entscheidungen und Prozesse der Heilsgeschichte involviert. Was uns religiös trennt, das scheint mir nur etwas Oberflächliches zu sein. Gott sieht das Herz, und diesem Blick will ich nachgehen bei meiner Auslegung, die menschheitlich, nicht kirchlich sein soll.




Besuch einer Privatschule
Um 1 Uhr treffe ich den Imam der nahen Moschee. Wir fahren zusammen zu der etwas ausserhalb Akhisar gelegenen Schule. Das stolze Gebäude steht auf einem freien Areal und hat einen grossen Pausenplatz. Wir treffen den englisch sprechenden Lehrer, den ich zusammen mit dem Schulleiter am Freitag bei der Moschee traf. Weil heute der Präsident des türkischen Parlaments die Stadt Akhisar besucht, ist der Schulleiter abwesend und vertritt bei dem Treffen seine Schule. Wie ich erfahre, ist das keine staatliche, sondern eine private Schule. Sie geht auf die Initiative eines Fettullah Gülen zurück, der jetzt etwa 65-jährig in Amerika lebt. Das pädagogische Ziel seiner Schulidee ist, dass sich Wissenschaft und Religion nicht ausschliessen, sondern befruchten. Es gebe in gegen 200 Ländern etwa 500 Privatschulen, die auf die Initiative von Fettullah Gülen zurück gehen. Ich habe von dem Mann noch nie etwas gehört. Ich erhalte von dem Englischlehrer aber eine islamische Zeitschrift auf Deutsch, welche von dieser Bewegung kommt. Gründer dieser Bewegung ist ein Bediuzzaman Said Nursi, welcher am Anfang des 20. Jahrhunderts reformerisch und religiöse aufklärend in der Türkei gewirkt hat. Was ich später aus der Lektüre des Hefts lese, macht mir Eindruck. Der religiöse Dialog mit allen Religionen wird da gross geschrieben. Von Nursi lese ich ein Gedicht, das die ganze Religion auf Gottesfurcht und Liebe zurückführt, und diese Religion ist universal und wohnt jedem Menschen inne. Meist aber würden die Menschen statt Gott die andern Menschen und die vergänglichen Dinge fürchten und lieben satt durch Gottesfurcht und Liebe die Dinge der Welt zu kosten und zu entdecken.
Ich orientiere mich auch über einige Fakten der Schule. Hier wird Unterricht von der 1. bis zur 8. Klasse angeboten, die Eltern bezahlen etwa 3000 Franken im Jahr, aber darin ist alles inbegriffen: Schulbuss, Mittagessen in der Schule, Bücher usw. Der Staat unterstützt die Schule nicht. Die Lehrer verdienen etwa 1500 Franken im Monat, an staatlichen Schulen um die 1000 Fr. Mein neuer Kollege, der Imam der Moschee, wollte zuerst nach der Rückkehr aus Deutschland auch als Lehrer, seinem eigentlichen Beruf, abreiten. Doch dann entschied er sich, beim Vorbeterberuf zu bleiben. Er verdient so über das Religionsministerium etwas weniger, erhält aber da und dort Spenden.
Die Führung durch vier verschiedene Klassenzimmer macht mir richtig Spass, da ich die verschiedenen Altersstufen kenne von meiner Zeit des Religionsunterrichts. Ich werde der Klasse jeweils kurz vorgestellt und dann dürfen die Schüler Fragen stellen. Die Fünftklässler sind die Aufgewecktesten. Sie wollen wissen, wie das Leben in der Schweiz ist, wie alt ich bin, was ich hier suche oder was ich von der Türkei halte. Auch antworten sie auf meine Fragen, was sie werden wollen. Fussballer, 4 Mal Arzt, Lehrerin - und einer Imam. Bei dieser Klasse schreibe ich meine Internetadresse auf die Tafel und verspreche den Schülern, dass sie heute Abend dort ihr Klassenbild finden. 70 Prozent dieser Schüler haben Zugang zum Internet. Die Viertklässler schreiben gerade eine Prüfung. Die Erstklässler sind wie bei uns lebendige kleine Winde, die der Lehrer in Zaum halten muss. Mein Besuch bringt sie fast ausser sich. Ganz anders der abschliessende Besuch bei der 7. Klasse. Da richt es auch schon ganz anders. Ich stehe kleinen Teenagern gegenüber, die aber eher scheu und zurückhaltend sind. Ich frage sie nach ihren Hobbys: Computer, Lesen, Fussball, Musik …Diesen Schülern wünsche ich zum Abschied viel Freude an der Schule und eine gute Zukunft. Weil der Imam zum Nachmittagsgebet und einer anschliessenden Beerdigung gehen muss, brechen wir relativ abrubt auf. Hier einige Bilder der Schule, die sich mit einem Klick vergrössern lassen sollten.

Privatschule in Akhisar Die aufgeweckte 5. Klasse Der Pausenhof 4. Klasse bei einer Prüfung
Die 1. Klasse mit Lehrer Aufgeweckte Erstklässeler 7. Klasse in linken und rechten Teil des Schulzimmers

 

Eine islamische Beerdigung
Wie wir bei der Moschee ankommen, ruft der Muezzin bereits zum Gebet. Es sind viele Leute gekommen, da anschliessend für die verstorbene Frau gebetet wird. Der Sarg ist vor der Moschee aufgebahrt. Nach dem offiziellen Gebet verrichtet der Imam vor der Verstorbenen ein kurzes Gebet.



Darin geht es um die Frage des Engels, der die verstorbenen nach ihrem Glauben befragt. In dem Gebet wird dem Engel beteuert, dass die Frau an Allah geglaubt hat. So hat sie freie Bahn. Bei diesem Gebet darf ich explizit fotografieren. Hingegen sei es nicht erlaubt, die Beerdigung selbst zu fotografieren, das es sich um eine Frau handle. Bei einem Mann wäre das kein Problem, den Leichnam zu fotografieren.
Mir fällt die Eile auf, in der hier dieser Abschied stattfindet. Scheinbar erhalten die Leute nur für ein bis zwei Stunden frei, aber die Eile hat wohl auch anderer Gründe. Wie wir in einem Buss hinter dem Leichenauto herfahren bis zum Friedhof, erkundige ich mich nach der Verstorbenen. Die Frau ist 28 Jahre als, hat vor zwei Monaten ihr zweites Kind geboren und seither Kopfschmerzen gehabt. Die Ärzte hätten nicht herausgefunden, was es ist. Heute morgen starb sie, wohl an einer Hirnblutung. Die Muslime beerdigen sofort. Der Imam zeigt mir später den Raum bei der Moschee, wo die Leichen gewaschen und in ein weisses Tuch gehüllt werden. Die Särge, die da stehen, dienen für den Transport der Leichen zum Friedhof. Die Toten werden ohne Sarg bestattet, so dass die Särge wieder verwertet werden.
Wir fahren durch ein Aral in der Vorstadt, wo die Automechaniker sind. Garage an Garage. Dann kommen wir an einem grossen Feld vorbei, dem alten Friedhof. Der Imam sagt mir, dass nebenan, wo jetzt ein Autofriedhof ist, früher der jüdische Friedhof war. Aber jetzt gebe es ja hier keine Juden mehr. Wo die Steine hingekommen sind, frage ich mich erst jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe. Dann kommen wir zum neuen Friedhof. Der Imam zeigt mir gleich am Eingang ein Grab mit der Jahrzahl 1985. Das war der erste Tote auf diesem Friedhof. Seither wird dieser benützt, bis er auch voll ist. Dann wird wieder ein neuer angelegt. Dieser neue Friedhof ist riesig. Wir fahren an vielen ungepflegten Gräbern vorbei und halten dann am Ort, wo die Frau bestattet wird. Die etwa 1.50 Meter tiefe Grube ist bereit. Eilig wird die Frau aus dem Sarg genommen und von Männern, die herabsteigen, in Empfang genommen und seitlich an eine Wand gelegt, wohl mit Blick nach Mekka. Dann wird ein Plastik über die Frau gelegt und mit Brettern ein Zwischenraum geschaffen, so dass die Frau in der Luft verwesen kann. Alle helfen mit, in Eile das Grab zuzuschütten und mit einem Hügel zu markieren. Dieser Hügel fällt dann mit den Jahren ein. Dann kauern alle um das Grab und beten mit dem Imam Worte des Korans. Es ist bitter kalt. Nach dem Gebet wird dem Ehemann kondoliert. Alle gehen an ihm vorbei. Aber kaum 10 Minuten später ist das ganze Zeremoniell vorbei und die Autos fahren wieder zurück. Mir ist aufgefallen, dass da nur Männer waren. Der Imam sagt mir, dass das so Brauch sei. Aber manchmal kommen auch Frauen.

Abschied bei der Moschee Der Leichenwagen fährt ab Gebet um das Grab Neues Grabmal für Martyrer
im Kampf gegen die PKK.

Wieder zurück bei der Moschee fotografiere ich den Imam und den Muezzin (der zum Gebet ruft) vor ihrer Moschee, die auf das Jahr 1503 zurück geht.
Dann gehen wir etwas Essen. Der Imam lässt es nicht zu, dass ich etwas bezahle. Wir sprechen lange über die Beerdigungspraxis. Was der Imam heute getan hat, macht er wöchentlich mehrmals.
Hätte nicht ich im Auto nach der Todesart, der Familie, den Verwandten usw. gefragt, so hätte der Imam die Abdankung gemacht ohne jede Kenntnis über das Leben der Verstorbenen.

Ich erinnere mich, dass mir jemand vor einigen Wochen erzählt hat, wie unterschiedlich er die Beerdigung eines christlichen und kurz darauf eines muslimischen Freundes erlebt hat. Die Hinwendung zum Leben des Verstorbenen, der im Ritual zum Ausdruck kommende Respekt vor diesem Leben, sei frappant unterschiedlich gewesen. Heute bestätigte sich mir dieser Eindruck, dass die Muslime ihre Toten in hastiger Eile, für mich fast etwas lieblos, beerdigen. Sie übergeben die Geschicke ganz schnell dem Herr über das Jenseits, Allah.

Links der Muezzin, rechts der deutsch sprechende Imam

Der Imam erklärt mir, dass nach dem Tod ein Engel entweder von links oder von rechts komme mit dem Buch, wo alle Taten aufgeschrieben sind. Kommt er von links, bedeutet das Schlechtes, kommt er von rechts, geht es dem Paradies entgegen. Beim Jüngsten Tag werden alle Toten auferstehen und «wie Champignons» aus dem Erdreich hervortreten, um vor Gottes Richterstuhl zu treten. In der Türkei gibt es keine Kremation. Mehmet Emin, der Imam (wir machen «Duzis»), ist erstaunt, dass wir das als Christen bei uns zulassen.
Dann tauschen wir Materialien aus. Ich gebe ihm ein Blatt, das in Türkisch über das Buch der Offenbarung informiert. Er gibt mir zwei Broschüren, die vom türkischen Religionsministerium hergestellt sind und über den Islam informieren. Als er dann weg muss zum Abendgebet und ich von meiner baldigen Weiterfahrt rede, möchte er, dass ich vorher sein Haus besuche und seine Frau und die Kinder kennen lerne. So verabreden wir uns für morgen um 7 Uhr morgens bei der Moschee - nach dem Morgengebet. Ich werde mich wecken müssen. Mehmet schwärmt von einer Tarhana-Suppe, die seine Frau mir morgen offerieren wird. Wegen der Beerdigung musste der Besuch beim Stadtpräsidenten verschoben werden, eventuell auf morgen.


Dienstag, 12.05: Thyatira (Akhisar)

Da mich Imam Efe Mehmet Emin heute Morgen zum Frühstück eingeladen hat, muss ich schon nach dem Morgengebet um 7 Uhr vor der Moschee stehen. So lasse ich mich im Hotel erstmals wecken - um 6 Uhr. Ich gebe mir etwas Zeit, um wach zu werden. Draussen sind noch kaum Leute unterwegs. Es ist bitter kalt. Ich treffe den Imam und wir gehen zuerst Brot kaufen. In der Bäckerei wird mir alles gezeigt: die Maschine, die den Teig knetet, jene, die ihn in gleich grosse Brocken bringt, die Brocken werden gewalzt und von Hand auf ein Brett angeordnet, mit dem man sie in den Ofen schiebt. Vorne in der Bäckerei sitzt der Besitzer und öffnet eine Lücke, wenn jemand ein Brot braucht (siehe 1. Bild unten). Nach einem Tee und einem Ringgebäck mit Sesam, fahren wir los zum Haus des Imam.
Unterwegs durch einen alten Stadtteil, wo ich nun erstmals auch alte osmanische Häuser und Lehmbauten sehe, kommen wir an einer Moschee vorbei, von der Mehmet sagt, dass sie noch älter ist als die seine. Diese Moschee war früher eine Kirche und vorher ein antikes Gebäude. Wir steigen aus und sehen, dass die Moschee hinten alte dicke Mauern aufweist, die auf frühere antike Gebäude schliessen lassen (siehe 2. Bild unten.)
Nach der gemeinsam verbrachten Zeit war es dem Imam ein Bedürfnis, mir sein Daheim und seine Familie vorzustellen. Die beiden Kinder freuen sich über meinen Besuch. Der 9-jährige Knabe sagte, dass er sich in «40 Jahren nicht hätte träumen lassen» (das ist eine sprichwörtliche Redewendung), dass ein Tourist sie je hier besuchen würde. Die Tochter, 11 Jahre alt, ist vorwitzig und gesellig (siehe 3. Bild untern). Wir schauen viele Fotos an aus der Zeit, in der die Familie in Hamburg war. Da hat die türkische Gemeinschaft eine leer stehende Kirche kaufen können samt Pfarrhaus. Die Gebäude wurden angepasst, und wie ich sehe, liess sich die Kirche seht gut in eine Moschee umbauen. Der Imam erzählt vom Dialog mit einem Pfarrer in Hamburg, der mit seiner Gemeinde die Moschee besucht habe. Nach einigen Vorbehalten der Gemeindeglieder seien sie gekommen und sehr überrascht gewesen über die Gastfreundschaft der Türken.
Die beiden Jüngsten waren damals zu jung, sie haben die Ansätze zur deutschen Sprache wieder vergessen. Hingegen spricht der ältere Sohn, der jetzt 20 Jahre alt ist, gut Deutsch. Er studiert in Ismir Deutschlehrer und ist der Stolz des Vaters.
Wir sprechen auch über die finanziellen Verhältnisse. In Deutschland wurde der Imam für seinen Dienst vom türkischen Staat mit 1500 Lira bezahlt, hier erhält er die Hälfte. Hätte er nicht das Mehrfamilienhaus, das Zinsen bringt, könnte er seinen Sohn nicht studieren lassen. Der habe eben kürzlich um mehr Geld nachgefragt und wünsche einen Laptop. Der Vater hat ihm geantwortet, dass er auch nicht bei Staat hingehen und sagen könne: Ich brauche mehr Geld. Auch er müsse mit dem, was vorgegeben ist, auskommen.

Islamische TV-Sender
Das Frühstück, das Mehmets Frau bereitet hat, ist reichhaltig, und besteht fast ausschliesslich aus eigenen Produkten. (siehe 4. Bild unten). Nach dem Frühstück gehen wir auf das Dach und halten Umschau. Von dort mache ich ein Foto der staatlichen Schule, die gleich über der Strasse liegt, wo auch die Kinder von Mehmet zur Schule gehen. (siehe 5. Bild untern)

Mir fällt die grosse Parabolantenne auf. Mit dieser können Hunderte von Programmen empfangen werden, je nach dem, auf welchen Satelit die Schale ausgerichtet wird. Ich darf dann in der Stube etwas durch die Welt reisen, unter anderem mache ich einen Abstecher in die Schweiz zum SF1, sogar reine Erotik- und Sexprogramme sind empfangbar. Bei unzähligen arabischen Sendern schaue ich etwas länger rein. Ich bin erstaunt, wie viel rein religiöse Programme es in der islamischen Welt gibt. Wir hören und schauen eine längere Koranrezitation, die mit Bildern aus der Tierwelt untermalt wird. Mehmet holt einen Koran mit deutscher Übersetzung, mit dem wir die Rezitation nach verfolgen können und über diese und jene Passage diskutieren.
Gegen Mittag müssen wir aufbrechen. Der Beruf des Vorbeters hat seien eigenen Rhythmus. Fünf mal im Tag muss er in der Moschee präsent sein und das Gebet leiten. Das gibt für die Arbeit eine ganz spezifische Situation. Der Imam ist viel frei, aber muss doch stets auf die Zeit schauen und pünktlich da sein. Wieder kommen wir sehr knapp zur Moschee. Bereits ertönt der Gebetsruf. Viele eher ältere Männer haben sich eingefunden. Ich verbringe die Zeit des Gebets in einem islamischen Buchladen, der von einem Deutsch sprechenden Mann in meinem Alter betrieben wird. Er ist auch Buchbinder, und während ich ihm bei seiner Arbeit mit der schönen alten Schneidmaschine zuschaue, berichtet er mit über die Sorgen in seinem Land wegen einigen Leuten, die den Staat zerstören wollen. Mit seinen politischen Ansichten bin ich nicht in allem einverstanden.

Treffen mit dem Schuldirektor
Nach dem Mittagsgebet (siehe 6. Bild unten) besuchen wir noch einmal die Privatschule, wo wir bereits gestern waren. Der Schuldirektor war gestern nicht anwesend, er wollte mich aber unbedingt noch sehen. Wir treffen ihn in seinem «herrschaftlichen Büro», doch der junge Mann ist herzlich und begegnet mir von Mensch zu Mensch. Das erste Mal werde ich von einem Mann in der Türkei links und rechst umarmt, wie das hier Brauch ist für gute Freunde. Er lässt mir dann übersetzen, wie er sich freue über meine Anliegen und Pläne hier in der Türkei und dass für ihn der Dialog der Religionen der Kerngedanke dieser Schule ist. Später essen wir Zmittag, wo die Schüler auch essen, und versuchen dabei dem näher zu kommen, was den religiösen Dialog auszeichnet. Ich erzähle von der Bedeutung der Philosophie, aber auch der mystischen Strömungen. Der junge Mann hat eine feine Ausstrahlung. Er ist nicht ein Intellektueller, sondern ein runder Mensch, der die Kinder über alles liebt. Diese kommen oft vorbei und die Art, wie der Schuldirektor mit ihnen und diese mit ihm umgehen, zeigt mir für die Türkei von einer neuen Seite. Nach dem Essen besuchen wir auch noch den Kindergarten. (siehe 7. Bild untern) Dazu gehen wir in einen eigenen Teil der Schule, der mich wie eine Wohnung, wie ein eigenes Daheim anmutet. Da gibt es einen eigenen Essraum, einen Schlafraum, ein Spielzimmer, einen Ort, wo die Kinder unter Aufsicht zeichnen und einen, wo sie gerade mit der ganzen Gruppe über eine gehörte Geschichte sprechen. Die drei jungen Frauen, die hier arbeiten, machen auf mich einen überzeugenden Eindruck.
Bei einem Tee sprechen wir dann noch lange über die Prinzipien der Schule. Der Englischlehrer erklärt mir, dass die Schule auf drei Fragen eine Antwort zu geben versuche: Woher kommen wir? Wozu sind wir da? Wohin werden wir gehen? Auf diese drei Fragen, welche allen Religionen zu Grunde liegt, wolle diese Schule mit ihrem Unterreicht zu antworten versuchen.
Wieder müssen wir abrupt aufbrechen. Der Schulleiter und zwei Lehrer begleiten uns bis zum Auto und wieder wir mit einer Umarmung verabschiedet.

Der Imam kommt wieder sehr knapp an. Er muss mit seinem Fiat rasen, damit er zum Beginn des Gebets in der Moschee ist. Ich warte wieder drausses bis das Gebet fertig ist. Eigentlich müsste ich endlich in mein Hotelzimmer gehen, um für mich zu arbeiten. Doch der Imam wollte mich noch seinem Vorgesetzten, dem Müffti, vorstellen. Dieser ist zuständig für die Imame der 42 Moscheen in Akhisar und für weitere 90 Dörfer in der Umgebung. Alle Geschäfte und Gesuche um Freitage, Ferien, Urlaub, Problemfällen usw. gehen über seinen Tisch. Im Haus des Müffti arbeiten auch weitere Angestellte, welche die Finanzen der Imame (Löhne, Krankenkasse, Pension usw) besorgen. Wieder komme ich in ein «herrschaftlches Büro», in dem sich auch ein höherer Beamter von alter Schule präsentiert, freundlich, zuvorkommend, aber auch klar definiert in seiner Funktion und seinem Auftreten.

Zu Gast beim Müffti: Ist Jesus Sohn Gottes oder Prophet?
Er läst sich informieren über das, was ich hier in Akhisar suche. Doch bald kommt er auf den Unterschied zwischen Muslimen und Christen zu reden. Ob ich glaube, dass Gott einer ist, oder ob ich auch meine, dass er dreifach sei zusammen mit Maria und einem Jesus, der fälschlicher Weise als Sohn Gottes bezeichnet würde, statt als Prophet.
Ich meine meinen Ohren nicht zu trauen. Was habe ich mit der Maria zu tun? Doch ich weiss, dass der Koran diese Bild der Trinität gibt, wie es im Umfeld Mohameds auch bekannt war. Ich versuche ihm die Idee der Trinität zu relativieren, statt ihm einfach zu sagen, dass uns da etwas trennt. Etwas fahrlässig erkläre ich, dass damit drei Eigenschaften Gottes gemeint seien, so wie die Muslime 99 Eigenschaften Gottes in den 99 Namen Allhas verehren. Wohl zu Recht lässt er den Vergleich nicht zu und greift zum Koran. Er trägt Stellen vor, die sagen, dass die Christen glauben, Jesus sei Gottes Sohn. Gott aber sei nicht geschöpflich, dass er einen Sohn zeuge. Ich schlage daheim eine Stelle nach: «Gelobt sei Allah, der weder einen Sohn gezeugt noch einen Gefährten im Regiment hat, noch einen Beschützer aus Schwäche» (Sure 17, 111). Der Koran sage deutlich, dass Jesus ein Prophet war. Ich nehme einen neuen Anlauf und sage, dass die islamischen Mystiker gelehrt hätten, dass Gott im Herzen jedes Menschen lebe. So sei auch die Gottessohnschaft von Jesus zu verstehen. Er liest eine Passage, die das bestätigt. Da steht, dass das grosse Universum zu klein sei, um Gott zu fassen, aber das Herz des Menschen sei dazu fähig. Was für ein schöner Gedanke! Aber zurecht weist der Müffti darauf hin, dass damit die Stellung, welche die Christen Jesus nben Gott geben, nicht erklärt werde.
Bei der ganzen Diskussion kommen wir zu keinem Ende. Im Grunde weiss ich ja um den Unterschied und den Anstoss, den die Muslime an der Heilsbedeutung von Jesus nehmen. Gerne hätte ich von den theologischen Debatten um den Titel des Gottessohnes gesprochen, aber diese sind zu kompliziert.
Zu guter Letzt erfahre ich dann noch, dass die Juden weiter von den Muslimen entfernt seien als die Christen. Das leuchtet mir nicht ein. Da werden mir Koranstellen gezeigt, die sagen, dass die Juden auch gelehrt hätten, dass Gott einen Sohn hat, nämlich den Üzeyir. Von diesem Üzeyir habe ich noch nie gehört, kann ihn auch nicht identifizieren, doch setze ich mich vehement für den Monotheismus der Juden ein. Die Juden glauben ebenso so streng an die Einheit Gottes wie die Muslime. Doch kommen wir da nicht weiter. Ich schreibe mir einige Koranstellen auf, die ich daheim prüfen will. Ich merke, dass ich noch besser über den Koran Bescheid wissen muss.
Es ist bereits Nacht, wie ich endlich dazu komme, die Begebenheiten des Tages aufzuschreiben. Da kommt auch noch der Imam bei mir im Hotel vorbei, und ich zeige ihm meine Studien, auch den griechischen Urtext des Sendschreibens an Thyatira. Er wusste nicht, dass unsere Schriften im Urtext Griechisch geschrieben sind. Passend zu unserer Diskussion beim Muffti sehe ich, dass ausgerechnet im Sendschreiben an Thyatira die Johannesoffenbarung das einzige Mal vom «Sohn Gottes» spricht.» Mir wird bewusst, dass ich diesem Begriff hier in der Apokalypse noch nachgehen muss. Der jüdisch denkende Apokalyptiker muss dabei der bewussten Verwendung dieses des Begriffs «Sohn Gottes» auch etwas ganz spezifisches gemeint haben aus seinem Hintergrund. Dem will ich noch nachgehen.

Wie ich das heute Geschriebene mit Bildern ausstatte, tritt ein Problem mit der Datei auf. Sämtliche Texte von Thyatira sind verschwunden und nur noch im Quelltext greifbar. So rette ich das Geschriebene dort, hole die Datei neu vom Server und verschiebe die Arbeit an diesem Text auf morgen.
Denn um 22.30 muss ich schon wieder raus. Da werden bei der Moschee die Pilger verabschiedet, die nach Mekka und Medina zur Hadsch reisen.

1. Beim Bäcker 2. Moschee mit antiker Mauer 3. Kinder des Imams 4. Frühstükstisch
5. Staatl. Schule 6. Nach dem Mittagsgebet 7. Kindergarten der Schule 8. Besuch beim Müffti

Verabschiedung der Pilger
Auf der Strasse ist ein gewaltiges Gedränge. Drei grosse Busse stehen bereit, in welche die Pilger mit weissen Kopftüchern einsteigen und herzlich verabschiedet werden. Sie fahren nach Ismir, um von dort nach Mekka zu fliegen. Die Fahrt per Car sei verboten. Während der ganzen Verabschiedung ertönen aus den Lautsprechern des Minaretts Koranrezitationen von den Imamen der Umgebung. Bevor die Cars losfahren, ergreift der Müffti das Wort. Er ist jetzt angezogen wie alle andern, einfach gekleidet mit einer Mütze. Auch die Art, wie er spricht, betet, segnet und fast ekstatisch rhythmisch in türkischer Sprache die Pilger auf den Weg schickt, macht mir Eindruck. Während etwa 10 Minuten spricht er frei, betend, segnend, erklärend. Wie mir ein alter Mann, der in Deutschland war, erklärt, vertröstet er auch jene Leute, die in diesem Jahr nicht zur Pilgerfahrt gehen können. Das Kontingent sei beschränkt. Aus Akhisar und Umgebung dürfen 900 Pilger losziehen.

Verabschiedung der Mekka-Pilger nachts um 11 Uhr vor der zentralen Moschee in Akhisar

Mittwoch, 20. Dezember 2005: Thyatira (Akhisar)

Noch immer bin ich in Akhisar. Es fällt mir schwer, nach Tagen an einem Ort loszufahren. Denn allmählich beginnt man die Leute, die Lokale, die Strassen usw. zu kennen und das Leben erhält eine eigene Qualität. Man fühlt sich am Ort daheim.
Heute ist noch grosser Basar in Akhisar. Der Imam will mit mir noch andere Moscheen besuchen. Und von der Umgebung habe ich noch kaum etwas besucht. Wieder ist heute ein sonniger, aber kalter Tag. Am Vormittag bin ich damit beschäftigt, meine gestern «abgestürzten Einträge» zu retten und das Arbeitsjournal von Thyatira wieder in Ordnung zu bringen. ich muss mich sehr konzentrieren, damit nicht wieder ein Fehler passiert.

Der Mittwochsmarkt in Akhisar
Akhisar liegt in der Ebene, alles ist flach und grosszügig, weshalb die Leute hier auch häufig mit dem Fahrrad unterwegs sind. Auffallend ist auch die grosszügige Marktanlage. Da müssen sich die Marktleute nicht wie in Bergama auf der Strasse breit machen und gegen Regen Dächer aufspannen. Hier hat die Stadt eine riesige Markhalle angelegt, ganz nahe beim Zentrum. Wie ich da gegen zwei Uhr ankomme, herrscht ein reges Treiben, aber kein Gedränge. Die Halle ist so angelegt, dass die Menschen viel Platz haben, sich zu bewegen. Allerdings fehlt mir im Markt die Sonneneinstrahlung. Am Rand, wo die Sonne hinkommt, mache ich Nahaufnahmen von Früchten und Gemüse wie schon in Bergame. Mit diesen Fotos will ich dann einmal eine kunstvolle Farbenseite gestalten - später.
Die Markthallen sind für die Esswahren reserviert, auch Käse und Fisch wird da verkauft. Der Kleidermarkt und Stände mit Gebrauchsgegenständen sind entlang einigen Strassen eingerichtet. Ich kaufe mir eine Mütze, denn seit zeit Tagen ist es klares Wetter, aber biesig kalt.

Um halb drei Uhr treffe ich den Imam. Ich hatte ihn gefragt, ob ich morgen Donnerstag an einer Sufi-Feier teilnehmen könne. Der Imam werde den betreffenden Leiter der mystischen Gesänge heute fragen, ob ich dabei sein könne. Wie ich zur Mosche komme, ist er mit diesem älteren, hageren Mann, der einen speziellen Hut trägt, im Gespräch. Wie ich komme, macht er schon ein Zeichen mit den Händen. Es sei nicht möglich, da ich ein Christ bin. An der Versammlung könnten nur gläubige Muslime teilnehmen. Schade.

Besuch der ältesten Moschee (Olu-Moschee)
Immam Efe Mehmet Emin und ich gehen dann durch die Gassen, um heute die Olu-Moschee aus dem 14. Jh. anzuschauen, die früher eine Kirche war. Als wir gestern bei den Ruinen von Thyatira waren, welche die Touristen jeweils besuchen, habe die Frau bei dem Eingang erklärt, dass jene Touristen, die sich auskennen, nach der Olu-Moschee fragen. Mehmet vermutet, dass das vielleicht die Kirche sein könnte, welche Johannes in Thyatira angeschrieben habe. Ich kläre ihn aber auf, dass damals um das Jahr 90, als die Apokalypse entstanden ist, noch keine eigentlichen Kirchengebäude gab. Diese seien erst ab dem 3. Und 4. Jh. entstanden, als das Christentum zur offiziellen Religion wurde. Ich versuche ihm auch den Unterschied von Gemeinde und Kirche zu erklären an den Begriffen umma (Gemeinschaft der Muslime) und cami (Moschee). Allerdings ist bei uns der Begriff Kirche zweideutig. Er steht für das Gebäude wie auch für die Gemeinschaft.
Mehmet hat dem Imam dieser Moschee angerufen, denn die Moscheen sind nur zur Gebetszeit offen. Der Sohn des Imams kommt, um uns die Moschee zu zeigen.
Das Gebäude scheint tatsächlich ein alter Kirchenbau zu sein. Da finden sich auch Elemente, die auf eine sehr frühe Zeit schiessen lassen, so einige Säulen, die dicken Mauern mit grossen Steinen und die zentrale Kuppel mit zwei Seitenschiffen. Aber schon seit dem 14. Jh. wird das Gebäude als Moschee benutzt.
Auf dem Weg zurück suche ich immer mal wieder alte Steine und finde tatsächlich eine Säule, die völlig vergammelt an einer Strassenecke liegt.

Bildhauergeschäft für Graber Die .........-Moschee Säule am Weg zur Ulu-camii Beschriftung der Ulu Camii
Die Ulu-Moschee von Aussen Dicke Mauern auch aussen Alte Säule Fensternische
Eingang mit dicken Mauern Seit 14. Jh. islam. Kuppel Blick von einem Seitenschiff Gebetsnische im Zentrum
Wir kommen dann wieder an der ....-Cami vorbei, welche noch näher am Zentrum ist und mir fast noch bedeutender vorkommt. Sie ist auch aus dem 15. Jh. und grosszügiger in der Anlage. Doch wir können den Imam nicht finden, um sie zu besichtigen.
Neben dieser Mosche ist das öffentliche Bad, wie mir der Imam erklärt. Da würden die Leute sich sauber machen, die das daheim nicht können. Wie wir rein gehen, stellt es sich raus, dass das ein klassische Hamam ist, ein türkisches Bad. Der Sohn des Betreibers spricht perfekt deutsch, er lebt seit 13 Jahren in Hamburg und hat dort seine Freundin. Stolz zeigt er mit das Weihnachtspaket, das er von seiner Freundin erhalten hat. Er und sein Vater betreiben das Bad mit grossen Erfolg, da sie auf Hygiene und Sauberkeit achten. Ich werde durch die Anlage geführt und erhalte grosse Lust, hier zu Baden. Morgen ist auch der Masseur da.
Das Hamam ist ab morgens 7 Uhr bis nachts um 12 Uhr offen. Am meisten Leute hat es am Abend.

Das türkische Bad (Hamam) Das Bad von innen Die Empfangshalle Das Weihnachtspaket


Wieder daheim bin ich ziemlich müde und friere etwas in meinem Hotelzimmer. Denn hier wird tagsüber nicht geheizt. Ich lege mich etwas auf mein Bett und lasse mir die Apokalypse des Johannes auf meinem Laptop vorsprechen. Wie schätze ich doch dieses Wunderding. Bei der 7. Posaune bin ich noch aufmerksam, dann aber muss ich eingenickt sein, da plötzlich vom himmlischen Jerusalem die Rede ist.

Donnerstag, 22. Dezember 2005: Thyatira, Akhisar

Heute Morgen ist wieder einmal Arbeit daheim in meinem Zimmer angesagt. Ich beende die Deutung des Sendschreibens an Thyatira, die etwas lang wird, aber ich bin zufrieden mit meiner Arbeit im Gefühl, dieses und jenes neu entdeckt zu haben. >>> Das Sendschreiben an Thyatira.
Auch den Text über die Stadt Thyatira bringe ich aufs Netz. Allerdings kann ich dort den Teil über die Kirche von Thyatira nicht schreiben. Ich habe das dazu nötige Buch daheim liegen gelassen. >>> Zur Geschichte von Thyatira

Eine Woche länger in der Türkei?
Was mein Zeitplan betrifft, bin ich bald eine Woche im Verzug. Da ich ohnehin kein Flugbillet für den 8. Januar erhalten habe, sondern nur eines für den 15. Januar, lasse ich mich wahrscheinlich von der Warteliste für den 8. Januar streichen. Dann ist hier Bayram, das Opferfest. Viele Türken besuchen ihre Verwandten in der Schweiz, sodass darum der Flug am 8. Januar besetzt ist. Ich habe festgestellt, dass ich mit meinem Laptop, mit E-Mails und Skype-Telefon bestens ausgerüstet bin und den Februarkirchenboten von hier aus gut in die Wege leiten kann. Eben habe ich Antwort erhalten aus der Schweiz. Die Besinnung auf Seite 2 ist bereits organisiert. Das gibt mir Luft und ich kann Sardes (Salihli), Philadelphia (Aleshir) und Laodicea (Denisli) noch je für eine Woche besuchen. Am 24. 12. fahre ich hier weg für einen Abstecher nach Ismir. Dort besuche ich Weihnachtsgottesdienste und am 25. Dezember bin ich bei der anglikanischen Priesterin eingeladen. Dann fahre ich am 25. Nach Salihli.

Der Beruf des Vorbeters (Imam oder Hoscha)
Der Imam wollte schon heute Vormittag mit mir wieder unterwegs sein. Auch er schätzt die Zeit mit mir, da er bei den Führungen auch selber dies und das entdeckt. So weiss er quasi nichts über die Geschichte von Thyatira, dafür umso mehr über den Koran und den Islam. Seine Koranauslegungen, die er täglich beim Mittagsgebet in seiner Moschee hält, werden übertragen auf andere Moscheen in der Umgebung, da nicht alle Vorbeter Arabisch sprechen und den Koran lesen oder interpretieren können. Er hat an der Universität studiert.
Das Leben eines Imams hat viel schöne, aber auch strenge Seiten. Darüber habe ich gestern beim Znacht mit Imam Mehmet gesprochen. Anspruchsvoll ist die fünfmalige Präsenz in der Moschee. Er lebt fortwährend mit der Uhr. Durch das gemeinsame Gebet und die Gespräche vor und nach dem Gebet ist der Imam ein allzeit zugänglicher Mensch, aber auch eine äusserst öffentliche Person. Weil die Gebetszeiten oft nahe beieinander liegen, bliebt der Imam oft im Umkreis der Moschee, isst vor Ort, trifft Leute, grüsst und hat da und dort einen Schwatz. Demgegenüber leben unserer Pfarrer wirklich viel intimer und können ein eigenes Privatleben pflegen.
Ungeplant wurden durch diese Beziehung mit dem Imam Efe Mehmet Emin meine Tage in Akhisar zu einer Begegnung mit dem Islam. Weil Mehmet in Hamburg war, kann er gut vermitteln zwischen der Mentalität der Leute hier und meinen Anliegen. Doch diese Vermittlung kommt auch an Grenzen. So darf ich beispielsweise - sosehr der Imam darum geworben hat - heute nicht an dem Sufiritual, das immer am Donnerstag stattfindet, teilnehmen. Da sind nur Muslime zugelassen.

Alkohol und von anderen Regeln und Pflichten der Muslime
Zudem ist mir gestern etwas Peinliches passiert, das mich etwas beschämt hat. Ich wollte, nachdem ich soviel eingeladen worden bin, dem Imam auch etwas bieten. Am ersten Abend war ich in einem modernen Restaurant, in das ich nun Mehmet einladen wollte. Wie wir aber vor der Türe des Lokals stehen, sagt er mir, dass er hier nicht hinein gehe, da werde Alkohol ausgeschenkt. Es gehe nicht an, dass die Leute ihn in diesem Lokal sehen. So gehen wir in ein traditionelles Lokal und essen auch gut. Ich sage vor dem Essen, wie die Muslime es pflegen: Bissmilamanirrachim - im Namen Gottes, des Allmächtigen. Er erklärt mir, dass es ganz wichtig ist, das vor dem Essen zu sagen. Gott zeige uns im Koran, dass man damit den Teufel vertreibe, der sonst mitesse und macht, dass man nicht satt wird. Beim Essen frage ich, ob er auch Imame kenne, die Rauchen. Ja, er kennt welche. Aber Alkohol ist haram, ist verboten. Ich erzähle ihm, dass ich früher auch abstinent gelebt hätte, von 18. bis zum 30. Altersjahr. Ob ich jetzt trinke? Ja, manchmal, sage ich. Dann spricht er mich fast etwas verlegen auf gestern Nacht an, wo ich spät abends bei der Verabschiedung der Pilger war. Es war da sehr laut, dass ich mit den Leuten ganz nahe, Kopf an Kopf, sprechen musste. Nun hat der Muezzin der Moschee, mit dem ich an jenem Abend gesprochen habe, dem Imam erzählt, dass er bei mir Alkohol gerochen hätte. «Dein Freund hat Alkohol gehabt», habe ihm der Muezzin erzählt. Und so nimmt der Imam die Gelegenheit war, diese Bemerkung des Muezzin zu prüfen. Wie ein reuiger Büsser gestehe ich ein, dass ich an jenem Abend Bier getrunken habe. Der Imam nimmt das stillschweigend zur Kenntnis und muss dann wieder wegeilen zum Gebet. Ich bleibe etwas beschämt zurück und hoffe, dass ich in der Achtung meines Freundes nicht zu tief gesunken bin. Auch daheim plagt mich noch das Gewissen darüber, dass ich hin und wieder trinke. Ich erinnere mich auch an die Diskussion vom letzten Freitag im Coiffeursalon. Der Imam hat mir da die Haltung eines Mannes übersetzt und dabei bemerkt, dass der Alkohol trinke. Schon im Tonfall war vernehmbar, dass man die theologischen Gedanken dieses Mannes darum nicht ernst nehmen kann.
In gewissen Weise macht mir dieser Zuge des Islams Eindruck. Die traditionelle Kultur ist alkoholfrei, auch wenn es immer eine Subkultur gab, in der getrunken wird. Auch die Aleviten sind da nicht so streng damit. Mit dem Aufkommen der säkularen, globalen Lebensweise nehmen aber auch hier andere Sitten Einzug, wie z.B. in dem Restaurant, in dem ich mit dem Imam essen wollte.
Die Verbote sind das eine. Dann kommen aber die religiösen Pflichten dazu, welche hier viele Leute in Skrupel versetzen. Heute habe ich gleich mit zwei junge Leute gesprochen, die nicht zum Gebet gehen. Der eine ist der Inhaber des Ladens mit islamischen Büchern gegenüber der Moschee, der Deutsch spricht. Zuerst sagte er, dass er viel zu arbeiten habe. Doch wenn er die Leute sehe, die mit dem Fahrrad von weit her zum Gebet kommen, müsse er sich schon sagen, dass er selber viel leichter hingehen könnte. Er sei so nahe dran, und 10 Minuten weggehen - das sollte möglich sein. Doch der Satan hätte ihm eingeflüstert, dass er in seinem Geschäft etwas weniger verdiene, wenn er zu den Gebetszeiten weggehe. Er hofft wie viele junge Leute, dass er im Alter dann doch noch mehr beten werden. Zudem ist er nicht ganz sicher, ob der damit das Paradies gewinne. Gott sei barmherzig und auch solche, die alle Gebete einhalten, könnten vor Gott schlecht da stehen, wenn sie ihn nicht von Herzen lieben.
Ich fragte den Imam, wie viel Prozent der Muslime fünf Mal täglich beten würden. Seine Angabe 50 Prozent ist für mich nicht glaubwürdig. Er meint jedoch, dass viele auch daheim beten. Nur das Freitagsgebet muss in der Moschee gebetet werden.
Ein Kapitel für sich sind die Frauen. Ich lobe sie glücklich, das sie nicht beten müssten. Doch der Imam sagt, dass sie daheim beten. Sie könnten aber nicht weg, das sie zu den Kindern und zum Haus schauen müssen.

Das Armenhaus bei der Pasa-Moschee
Am Nachmittag besuchen wir die Anlage der Pasa-Mosche. Sie wurde zusammen mit dem Bad, der öffentlichen Toilette und dem Armenhaus 1469 errichtet. Das Gebäude war vorher keine Kirche, wird mir bestätigt. Das erkennt man an der Ausrichtung des Gebäudes. Während die Ulu-Moschee, die wir gestern besucht haben, von Westen nach Osten ausgerichtet ist, war sie früher eine Kirche. Die Pasa-Mosche aber ist ordentlich nach Mekka ausgerichtet. Da sitzen wir lange zusammen, mehrere Imams, und unterhalten uns über die christlichen Konfessionen, über den Beruf des Imams und deren Ausbildung. Die Imame mit guten Abschluss werden für vier Jahre ins Ausland geschickt, früher waren es sechs Jahre. Alle Anwesenden ausser einem waren im Ausland, in Hockenheim (D), in Holland und in Hamburg. Der eine der Imame leitet jetzt das Armenhaus, wo täglich für 500 Leute ein Mittagessen gekocht wird. Morgen bin ich da zum Mittagessen eingeladen. Vorher darf ich in der Hauptmoschee am Freitagsgebet teilnehmen. Der Imam ermöglicht mir das, da er interessiert ist an meiner Berichterstattung und es nur recht findet, wenn ich im Internet auch das grosse Freitagsgebet zeigen kann.

Glaubensgespräche im Hamam (türkisches Bad) der Pasa-Moschee
Ich habe schon am einige Bilder des öffentlichen Bades bei der Pasa-Moschee aufs Netz getan. Der Sohn des Inhabers dieses Bades (Hamam) war 13 Jahre in Deutschland und ist ein guter Kerl. Wir haben uns sofort gut verstanden. Ich habe es genossen, mit jemandem zu reden, der perfekt Deutsch kann und die Sitten bei uns kennt.
Nachdem ich meinen Eintrag für das Internet abgeschlossen hatte - es war schon 22.30 Uhr - ging ich zu dem Bad. Es hat täglich bis 12 Uhr offen. Da sass ich lange in der gut geheizten Vorhalle und habe mit Emrah, dem Sohn des Hamambesitzers, mit dem Vater und einem Onkel lange gesprochen. Emrah hat übersetzt. Viel Betrieb war da nicht mehr. Als dann ein Gast kam, habe auch ich mich in das Bad begeben, welches sich zu Recht rühmen kann, eines der saubersten in der Gegend zu sein.
Emrah erklärt mir alles. Er zeigt mir die Kabiene, wo ich mich umziehen kann und wie ich mich mit einem Tuch meine Scham bedecke. Im Bad sitzt man auf die geheizte Bank und lässt in ein Becken heisses Wasser fliessen. Mit diesem Wasser kann man sich wachen, übergiessen und das Element geniessen. Dann ist da in der Mitte aus weissem Marmor eine grosses, geheitztes Bodest, auf das man sich legen kann.
Ich geniesse das Bad und sitze anschliessend noch bis 1 Uhr mit Emrah in der Vorhalle in angeregtem Gespräch. Wir kommen auf einen wichtigen Punkt des religiösen Dialogs zu sprechen: Ich bemängle bei den Muslimen, dass sie - wo sie doch an alle herabgesandten Bücher glauben - die Bibel nicht lesen, er fragt mich, warum wir nicht an der Prophetie des Mohamed interessiert sind und den Koran nicht als heiliges Buch akzeptieren.
Er bringt mir einen bestechenden Vergleich, der mich fast in Verlegenheit bringt. Er erklärt das so: Wenn bis 1998 für eine Geschwindigkeitsübertretung in Deutschland 20 DM bezahlt werden mussten, aber im Jahr 2004 ein neues Gesetz in Kraft trat, dass diese Überschreitung mit 40 Euro belegt, dann kann ich nicht hingehen und mich auf das Gesetz von 1998 berufen. Es ist immer das letzte Gesetz gültig. So sei auch die Offenbarung des Mohamed später von Gott gesandt worden und es sei müssig, sich auf die Schriften davor zu berufen.
Nach einigem Nachdenken behaupte ich, dass die Evangelien und das neue Testament keine Gesetzbuch seien, sondern die Kunde vom Kommen Gottes. Emrah versteht meine Differenzierung nicht ganz, so dass ich aushole, mich aber in für ihn unverständliche Botschaften versteige. Für Muslime ist und bleibt die Botschaft Gottes ein Gesetzbuch, vielleicht in dem Sinne, wie Jesus in der Bergpredigt sagt, dass er nicht gekommen ist, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen. Diese Erfüllung besteht nun sicher in einem Gnadenakt, dass Gott das Herz der Menschen wandelt und ihm Kenntnis seiner Ordnung vermittelt, sodass er aus dieser Erfahrung der Gnade das Gesetz erfüllt. Aber wir Christen sind wohl da oft etwas voreilig, dass wir über der Rede von der Gnade vergessen, was Gott von uns fordert durch seine Gesandten.
Emrah ist in seiner ganzen Jugendlichkeit (25 Jahre) ein kraftvoller und gläubiger Mensche. Engel, das Leben nach dem Tod, das Allwissen Gottes und das Gericht sind für ihn absolute Wirklichkeit, obwohl er ansonsten ein junger Mann ist, der ganz im Leben steht. Er liebt seine Frau aus Deutschland über alles. Vor zwei Monaten war sie hier, und sie haben geheiratet. Täglich ist er mit ihr in Kontakt über SMS und das Telefon. Sie ist noch in der Ausbildung, lernt Sozialpädagogin.

 

Freitag, 23. Dezember 2005: Thyatira (Akhisar)

Heute morgen muss ich mein Zimmer, das drei Betten hat, räumen. In der nahe gelegenen Kaserne ist Elternbesuchstag. Von weit her reisen Eltern nach Akhisar, um über das Wochenende mit ihrem Sohn zusammen zu sein. Im Badehaus treffe ich heute ein Eltenpaar, wo der Mann in Bergenz bei einer Baufirma arbeitet. Sie sind von Istambul hier her gefahren, um mit dem Sohn das Wochenende zu verbringen. Der Vater hat seinen Sohn 7 Monate nicht mehr gesehen. Auf dem Bau ist jetzt für 3 Monate Pause. Die Eltern mit ihrem Sohn, der sich im Hamam ein Bad nahm, haben nur noch ein Zimmer mit einem Bett gefunden. Der Sohn und die Mutter würden im Bett schlafen, der Vater am Boden. So habe ich Verständnis, dass ich heute wegen einem Tag in ein kleines Einbettzimmer zügeln musste - morgen fahre ich für zwei Tage nach Ismir, um dort Weihnachten zu verbringen. Wie ich jetzt merke, hat das kleine Zimmer auch vorteile. Es hat kein Fenster gegen aussen, ist aber gerade darum sehr warm.

Das Freitagsgebet in der zentralen Yeni-Moschee (1503)
Wie schon gestern berichtet erlaubte mir der Imam der zentralen Moschee, heute beim grossen Freitagsgebet teilzunehmen. Am Vormittag habe ich damit begonnen, ein Portrait dieses Imams zuschreiben, mit dem ich diese Woche in Akhisar verbracht habe und der mir soviel Türen geöffnet hat. Vielleicht werde ich das Portrait im Februarkirchenboten veröffentlichen, für den ich ja bereits wieder zuständig sein werde. Die Leserschaft wird mir das verzeihen, wenn ich meine Erfahrungen in der Türkei in dieser Ausgabe verarbeite. Doch den Text könnte ich auch an andere Medien schicken.
Damit ich noch in die Moschee rein kann, musste ich frühzeitig anwesend sein. Der Muezzin begrüsst mich herzlich - er nimmt mir meinen Alkoholgenoss vom Donnerstag nicht Übel. Ich darf in der Moschee auf der Galerie des Gebetsrufers (Müezzin Mahfili) Platz nehmen, von dem erhöhten Platz, wo der Muezzin die Verstärkeranlagen betreut und das Gebet mitgestaltet.
Wie ich mich da niedersetzte, spricht von der kleineren Vortragskanzel (Kürsü) der Müffti (Chef aller Vorbeter) von Akhisar zu den Leuten, die bereits hier sind. Er spricht in Türkisch über gesellschaftliche Fragen im Lichte des Korans. Imam Eve Mehmet muss ihn unterbrechen, da es Zeit ist für das Gebet. Die Leute vollziehen das freiwillige Gebet, das nicht Pflicht ist. Die Muslime beten dieses Gebet nach dem Vorbild Mohameds (sunna). Die Anzahl der vorgeschriebenen (fars) Gebetsdurchgänge (rakat) ist bei jedem der fünf täglichen Gebete unterschiedlich.
Doch vor dem offiziellen Gebet steigt der zwanzigjährige Sohn des Imams bedächtig und rituell die Treppen der Predigtkanzel hinauf, rezitiert einige Passagen aus dem Koran und legt sie aus in Türkischer Sprache. Er trägt das traditionelle Kleid des Hoca, des Vorbeters (siehe Bild untern). Dann folgen die gemeinsamen Gebete, zu denen der Muezzin mit seinem Ruf den Beginn festlegt. Im Gleichklang des Vorbeters werfen sich die Muslime vor Gott nieder und sprechen die dazu vorgeschriebenen Texte aus dem Koran. >>> Herunterladen eines kleines Films zum Freitagsgebet
Nach diesem Gebet nehmen die Männer ihre Gebetskette zur Hand und sprechen den 3x33 Perlen entlang arabische Meditationsworte. Dann ist freies Gebet angesagt, zu dem die Muslime ihre Hände nach oben erhaben.

Safa, der Sohn des Imams
Erst nach dem Freitagsgebet, wie viele Leute noch vor der Mosches zusammen plaudern, erfahre ich, dass der junge Prediger auf der Minber (Predigtkanzel) der Sohn des Imams ist, der in Ismir deutsche Sprache studiert.
Wie freue ich mich, diesen jungen, neunzehnjährigen Burschen kennen zu lernen. Ich verstehe nun des Vaters Stolz. Safa war schon in Deutschland ein eifriger Schüler, eine Freude aller Lehrer. Er hat schnell und gut Deutsch gelernt. Noch in Hamburg, wo er während drei Jahren war, hat er eine Koranschule besucht und den ganzen Koran auswendig gelernt. Er hat dazu eine Prüfung abgelegt, so dass er auf einem offiziellen Papier als «Hafez», als einer, der den Koran auswendig kann, gelten darf. Er hat für diese Schulung zwei Jahre aufgewendet. Wie ich erfahre, versteht er dabei nicht alles, was er auswendig spricht. Hingegen kennt sein Vater, der auch «Hafez» ist, auch die Bedeutung der Koranverse. Der Vater hat an einer berühmten Universität in Istambul studiert. Dank des guten Abschlusses wurde er für vier Jahre nach Hamburg geschickt, wo Safa seine Liebe zur Deutschen Sprache entdeckt hat. Safa studiert jetzt in Ismir Deutsche Sprache. Die Aufnahmeprüfung hat er souverän abgeschlossen und auch jetzt sitzt er an der «Universität 7. September» in der vordersten Reihe und könne oft den Dozenten dieses und jenes klären. Er spricht ein sehr schönes Deutsch und reflektiert seine Sätze mit einer Grammatik, die mich völlig überfordert. Er erlernt die deutsche Sprache mit einem grossen Aufwand an grammatikalischen Regel, von denen ich keine Ahnung habe. Auch hat er Ziele für sein Leben, die mich tief berühren. Er will korrekt übersetzen können. Heute kommt er mit mir auf die Rechnung und kann prüfen, wie weit er damit ist. Noch vor der Moschee erklärt er mit, wer hier wer ist. Zu dieser zentralen Moschee kommen alle die Leute, die hier Rang und Namen haben. Viele alte, nunmehr pensionierte Vorbeter, die hohes Ansehen haben, auch Leute in öffentlichen Ämtern. Überhaupt ist mir schon früher der Gedanke gekommen, dass die Moschee hier der öffentliche Platz schlechthin ist, wo sich die Elite der Stadt trifft. So muss es früher auch mit unseren Kirchen gewesen sein.
Nach dem Gebet gehen wir zusammen durch die Gassen und bleiben da und dort stehen. Bei einem Seiler kaufe ich für unsern Hand ein Halsband, doch ich darf nicht bezahlen. Zum Mittagessen sind wir gegen 10 Leute, auch der Müffti von Akhisr ist dabei. Ein Mann hat uns alle eingeladen. Ich frage nach dem Essen, warum diese Mann das getan habe. Da erklärt mir Safe recht ausführlich die koranischen Grundlagen dieses Wohltat. Mohamed hätte gesagt, dass wir Gäste über alles zu verwähnen hätten. Wir hätten selber nicht zu essen, sondern Essen zu geben, selber nicht um Kleider besorgt zu sein, sondern Kleider zu geben usw. Alles, was wir so verschenken, würde uns im Paradies vielfach zurück erstattet. Wie das Sonnenlicht, das durch ein Fenster einfällt, jedes Stabchen erhellt, so werde auch Allah jede kleine Tat von uns sehen und uns vergelten (Sure Zilzel). Nach dem Essen mache ich vom Sohn des Imams und dem Spender des Essens noch ein Foto (siehe unten).
Da Safa morgen nach Ismir zurück kehren muss und auch ich nach Ismir will, um dort Weihnachten zu feiern, vereinbaren wir, gemeinsam zu fahren. Morgen treffen wir uns nach dem Mittagsgebet und wollen das Portrait seines Vaters noch überarbeiten und korrigieren. Dann fahren wir gemeinsam nach Ismir, wo Safa in einer WG zusammen mit drei andern Studenten wohnt.
Da der Imam Mehmet an allen meinen Bildern aus den bisherigen Gemeinden interessiert ist, kaufen wir 5 CD und Safa und ich bringen alle meine Fots mit meinem Lapto auf drei CD's. Mein Fotografiern hat Mehmet scheinbar doch beeindruckt.
Die hier folgenden Bilder lassen sich durch einen Klick auf das Bild vergrössern.

Predigt des Müffti freies Gebet Der Gebetsrufer (Müezzin) Safa, der Sohn des Vorbeters
Das offizielle Gebet Meditation der Namen Gottes freies, persönliches Gebet Kalligraphie in der Yeni-Camii
Imam Mehmet und der Sufi Safa und Essensspender Imam Mehmet mit Sohn Safa Ein Losverkäufer am 23.12

Samstag, 24.12.05: Akhisar (Thyatira) / Ismir (Smyrna)

Heute Morgen um 6 bin ich aufgeschreckt. Er dröhnte und alles wackelt.
Bis ich recht wach war, war der Spuk vorbei. Ein richtiges Erdbeben. Kein Licht mehr funktionierte, draussen hörte ich die andern Gäste des Hotels reden und herumlaufen. Ich brauche etwas Zeit, bis ich das Feuerzeug gefunden habe, um mich anziehen zu können. Viele Leute sind draussen vor dem Hotel und auf der Strasse. Ich frage den Mann an der Reception, was er davon mitgekriegt hat, da er wach sein musste. Er vermutet Stärke 3.
Dann schaut er auf einer Internetseite nach, wo alles registriert wird. Es hatte die Stärke 4,6 und eine halbe Stunde später 2,3. Das sei ein gutes Zeichen. Es war mir trotzdem doch etwas mulmig zu Mute, als ich mich nochmals hingelegt habe.
Nun: Hier sagt man, dass kleine Beben gut sind. Das verhindert grosse. Sie würden sogar beten: Allah, gib uns wöchentlich das kleine Erdbeben.
Doch man spricht hier doch über das Erdbeben. Es gab hier länger keines mehr. Das Beben war nur auf die Gegend von Akhisar konzentriert, auf einem Umkreis von 17 km.

Heute Nachmittag fahre ich nach Ismir, wo ich eine Katholische Mitternachtsmesse besuchen will, morgen bin ich bei einer anglikanischen Pfarrerin zu Gast. Sie hat mehrere Leute eingeladen.

 

 
 
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